Chronobiologie
Das Wort ‚Chronobiologie‘ kommt aus dem Altgriechischen und setzt sich zusammen aus ‚chrónos‘ – die Zeit, ‚bios‘ – das Leben und ‚logos‘ – die Lehre. Es ist sozusagen die Lehre über die Zeit des Lebens. Dabei werden oft Begriffe wie ‚Biologische Uhr‘ oder ‚Innere Uhr‘ genannt, welche keine tatsächlichen Uhren beschreiben, sondern Mechanismen in Lebewesen, die ihnen eine zeitliche Struktur geben.
Jean-Jacques de Mairan (1678-1771) war der erste heute bekannte Chronobiologe. [Klarsfeld, 2013] Er untersuchte verschiedene Pflanzen, unter anderem auch Mimosen und Sonnenwenden. Dabei entdeckte er, dass diese sich auch in absoluter Dunkelheit weiterhin öffnen und schließen, so als ob sie die Sonne ‚spüren‘ könnten. Leider war das auch zunächst die einzige Schlussfolgerung aus diesem und ähnlichen Experimenten. Man vermutete eine Art Strahlung, welche bis dahin unentdeckt war. Trotzdem überlegt de Mairan, ob es es mit Hilfe von Öfen nicht vielleicht möglich wäre, Tag und Nacht so zu simulieren, dass sich das Verhalten der Pflanze um 12 Stunden verschiebt.
Johann Gottfried Zinn (1727–1759) konstruierte einen Mechanismus, mit dem er die Blattbewegungen mit verschiedenen kleinen Hebel auf eine Papierrolle übertragen konnte. Die Blätter bewegten sich auch bei Ausbleiben des Sonnenlichts periodisch weiter. [Steinmetz/Forster] Allerdings dauerte eine Periode ohne Tageslicht nicht nur genau 24 Stunden, sondern etwas länger.
Einen weiteren Meilenstein legte Wilhelm Friedrich Philipp Pfeffer (1845-1920) in der Chronobiologie. [Schwarz, 2001] So führte er das von de Mairan bereits vorgeschlagene Experiment und viele Folgeuntersuchungen durch. Mit Kerzenlicht verschob er den Tagesrhythmus der Pflanzen um 12 Stunden und zeigte so, dass „sogar bei den schon in Gang gesetzten Schlafbewegungen eine Verschiebung des Rhythmus um 12 Stunden ziemlich schnell gelingt, wenn man den bisherigen Beleuchtungsturnus um 12 Stunden verschiebt“ (Biologisches Zentralblatt Band 28 (1908), S. 410, [Goebel/Hertwig, 1908]) Damit war klar, dass der Grund für die Blattbewegungen auch in völliger Dunkelheit keine bisher unbekannte Strahlung sein kann.
Im 19. Jahrhundert begannen parallel Untersuchungen an Tieren und Menschen. Virey untersuchte Blutdruck und Körpertemperatur und prägte erstmals den Begriff ‚Innere Uhr‘. [Schwarz, 2001] Dass dieser Wissenschaftszweig wichtig ist und dringend weiter erforscht werden musste, zeigte die industrielle Revolution und die damit eingeführte Schichtarbeit. Erstmals zeigten sich negative gesundheitliche Folgen, die durch Nichteinhaltung des natürlichen Schlafrhythmus verursacht wurden. Allerdings ließen sich diese damals noch kaum mit der Chronobiologie in Verbindung bringen.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann dann die eigentliche Erforschung der bis dahin beobachteten Tatsachen. In der ersten Hälfte wurden viele Grundlagen untersucht. Es ist schwer, in dieser Zeit einzelne Namen oder Ergebnisse hervorzuheben. Wichtig für Erkenntnisse rund um den Menschen, war ein Experiment unter der Leitung von Jürgen Aschoff (1913-1998) und Rütger Wever (1923-2010). Sie ließen tief unten in einem Berg einen Schlafbunker bauen. Ab 1961 wurde dort mit Freiwilligen das menschliche Verhalten untersucht, wenn man abgeschieden von jeglicher Zeit lebt. Weder Uhr noch Sonne und weder Radio noch Fernseher gaben den Menschen ein Gefühl von Zeit. Einzig und allein der menschliche Körper steuerte Wach- und Schlafzeiten. Das Ergebnis war, obwohl bereits vermutet, verblüffend. Der Mensch lebte weiter, wie bisher. Fast zumindest. Circa 16 Stunden im wachen Zustand wurden gefolgt von 8 bis 9 Stunden Schlaf. So hat die innere Uhr eine Periodenlänge von ungefähr 25 Stunden. Dieses Experiment wurde auf der ganzen Welt von unterschiedlichsten Wissenschaftlern wiederholt und alle kamen zu dem selben Ergebnis. [Spork, 2011] Dass die innere Uhr im Menschen existiert, war nun klar.
John Woodland Hastings (1927-2014) war einer der ersten, der die innere Uhr auf zellulärer und molekularer Ebene erforschte. Einer seiner Studenten war Till Roenneberg (*1953). Er hatte bereits mit 17 Jahren mit Jürgen Aschoff zusammen gearbeitet. Heute ist er einer der führenden Chronobiologen. Zu Ehren seines Freundes und Kollegen initiierte er den Aschoff‘s Rule Preis, welcher seit 1991 an führende Chronobiologen vergeben wird. Selber entwarf Roenneberg den Munich Chronotype Questionnaire, einen Fragebogen zur Bestimmung der inneren Uhr. Dieser ist auch die Grundlage für diese Arbeit. Erstmals wurden Menschen nicht nur im Labor oder einzeln untersucht. Es wurde eine riesige Datenbank mit den Chronotypen von mehr als 250‘000 Menschen weltweit erstellt. Daraus konnten einige grundlegende Schlüsse gezogen werden, die von großer Bedeutung sind.
Jeffrey C. Hall (*1945), Michael Rosbash (*1944) und Michael W. Young (*1949) stehen stellvertretend für die Chronobiologie. Denn mit Ihnen gewann 2017 der ganze Wissenschaftszweig zum ersten Mal den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. Er wurde verliehen für die Entdeckung der molekularen Mechanismen zur Steuerung circadianer Rhythmen. [nobelprize.org, 2017]
Das zeigt, dass die Chronobiologie so langsam endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient hat.
Biologische Uhren
Im vorherigen Kapitel wurden vor allem die Forschung rund um den 24-Stunden Rhythmus in Lebewesen beschrieben. Einige Forscher stellten sich aber auch Fragen wie „Woher wissen Zugvögel, wann sie los fliegen?“ oder „Wann fallen bestimmte Tiere in den Winterschlaf?“. Außerdem wurden auch kürzere Zeiträume interessant. „Warum leben Neugeborene eher in einem 6 Stunden Rhythmus als in einem 24 Stunden Turnus?“ So entdeckte man, dass es mehrere innere Uhren gibt.
In der Chronobiologie entscheidet man im wesentlichen zwischen drei verschiedenen biologischen Uhren. Zum einen der Circadiane Rhythmus. Eine Periode dauert circa 24 bis 25 Stunden. Die Rhythmen, die wesentlich länger dauern nennt man infradian. Dazu gehören circannuale Rhythmen mit einer Periodendauer von ungefähr einem Jahr oder der circalunare Rhythmus, welcher den Mondphasen entspricht. Ist die Periodendauer dagegen kürzer, spricht man von ultradianen Rhythmen. Diese können zum Beispiel den Gezeiten entsprechen, also eine Periodendauer von ungefähr 12,5 Stunden haben, oder Aktivitätsphasen steuern.
Welcher dieser Rhythmus besonders bedeutend für das Lebewesen ist, hängt vom Lebensraum und der Lebensweise ab. Für Wüstenbewohner sind Regenzeiten eher relevant, also wird man da wahrscheinlicher gut ausgeprägte infradiane Rhythmen finden. Krabben, welche an Küsten beheimatet sind, werden sich mit Hilfe ultradianer Rhythmen, eher nach den Gezeiten richten.
Auf dieser Seite werde ich mich im Folgenden aber ausschließlich mit der Circadianen Rhythmik befassen, insbesondere der des Menschen.
Circadiane Rhythmik
„Circadian“ kommt aus dem Lateinischen und setzt sich aus den Wörtern ‚circa‘ – ungefähr und ‚dies‘ – der Tag zusammen. Zunächst ist zu sagen, dass es nicht nur eine innere Uhr gibt, von der alles gesteuert wird. Viel mehr gibt es mehrere Systeme, welche mit einer Periodizität von ungefähr 24 Stunden arbeiten. Dass diese Uhren synchron laufen liegt vor allem an sogenannten Zeitgebern. Zeitgeber sind äußere Einflüsse, wie Licht und andere Reize, worauf unser Körper reagiert und sich anpasst. Entziehen wir uns den äußeren Zeitgebern, wie zum Beispiel in dem Bunkerexperiment, werden die verschiedenen Systeme sichtbar. Und es wird auch deutlich, wie exakt diese arbeiten. Während die Körpertemperatur kontinuierlich weiter schwankte (in der Nacht circa 36,5°C; am Tag circa 37,5°C) variierte der Schlaf-Wach-Rhythmus deutlicher. [Spork, 2011]
Zeitgeber haben aber auch einen ganz anderen praktischen Effekt, neben der Synchronisation. Sie ermöglichen uns mit nur geringen Problemen, in andere Zeitzonen zu wechseln. Oft ärgert man sich nach der Ankunft im Urlaubsort über die Folgen eines Jetlags. Doch weiß man über das Vorhandensein der inneren Uhren Bescheid, ist es ein Wunder, wie schnell wir in der Lage sind, uns anzupassen. Viel verblüffender ist es noch, wenn man weiß, wie die Uhren funktionieren.
Wie bereits erwähnt wurde der Nobelpreis für Medizin und Physiologie 2017 für die Erforschung der molekularen Funktionsweise der circadianen Rhythmik verliehen. Hall und Rosbash stellten fest, dass der PER-Spiegel in einem 24 Stunden Rhythmus oszilliert. PER ist ein Protein, welches durch das Gen „Period“ im X-Chromosom codiert ist. Dieser Proteinspiegel ist sozusagen der Zeiger unserer inneren Uhr. Dass PER so oszilliert, liegt an einer Rückkopplung. Denn sobald das Protein vorhanden ist, hemmt es die Erzeugung der Period-mRNA. Diese wurde im Zytoplasma zur Produktion des PER genutzt. Wenn keine mRNA mehr entsteht, nimmt der Proteinspiegel wieder ab. Ist der Spiegel sehr gering, beginnt die mRNA-Transkription wieder. In Abbildung 1 ist dies vereinfacht dargestellt.
Einziges Problem an diesem Vorgang ist, dass das PER-Protein nicht alleine in den Zellkern kommt, um die Produktion der mRNA zu hemmen. Young fand die Lösung. Das TIM-Protein, welches in einem anderen „Clock-Gen“ codiert ist, verbindet sich mit PER und kann so in den Zellkern eindringen.
Für die Regulation der Frequenz und der stetigen Anpassung an die äußeren Bedingungen sorgt ein weiteres „Clock-Gen“. Dieses erzeugt DBT-Proteine, welches wiederum die Ansammlung von PER hemmt und so die innere Zeit verzögert. [nobelprize.org (b), 2017]
Die Bedeutung der inneren Uhr für den Menschen
Der Grund für die Existenz einer inneren Uhr sollte in den vorhergehenden Kapiteln deutlich geworden sein. Evolutionär haben sich Gejagte eher durchgesetzt, welche zu Zeiten aktiv waren, in denen Jäger geschlafen haben. Das gilt auch für den Menschen. Unser Körper mit all unseren Sinnesorganen ist darauf ausgelegt, am Tag aktiv zu sein und in der Nacht zu schlafen. So können wir deutlich besser sehen als hören und riechen, wie es bei nachtaktiven Tieren der Fall ist. Um am Tag ein Optimum an Leistung zu bieten, richtete sich der Körper nach der inneren Uhr aus. So konnte er die folgenden Tagesphasen bereits frühzeitig vorbereiten, auch an bedeckten Tagen. Trotzdem gab es auch in der Gemeinschaft schon immer Ausnahmen. Ein geringer Anteil an Menschen konnte besser in der Nacht wach sein als am Tag. Diese wurden dann Wachen. So wurde im Laufe der Evolution immer das ausgewählt, was sinnvoll war. Bis in das 19. Jahrhundert stimmte das auch. Bis dahin hat unser Chronotyp mit der Sonne übereingestimmt (Ortszeit). Mit dem Aufkommen von Eisenbahnen und Telegrammen wurden einheitliche Zeiten notwendig. 1884 wurden auf der Internationale Meridiankonferenz einheitliche Zeitzonen festgelegt. Diese Zeit wird im Folgenden soziale Zeit genannt. Aktuell wird die soziale Zeit zweimal im Jahr um eine Stunde verschoben. Während wir uns äußerlich versuchen an die festgelegte soziale Zeit anzupassen, passt sich unsere innere natürliche Zeit nicht an. Evolutionäre Zeitanpassungen erfordern viel längere Zeitabschnitte. Einfach gesagt kommt die Evolution der menschlichen Entwicklung nicht mehr hinterher. Das wird an vielen Stellen mehr oder weniger deutlich sichtbar.
Ein Maß dafür, wie stark sich die Innenzeit von der sozialen Zeit unterscheidet ist der Social Jetlag. Ein Social Jetlag hat viele negative gesundheitliche Folgen. Am stärksten zeigt sich das durch eine geringere Lebenserwartung. [Borisenkov, 2011] [Roenneberger, 2019, S. 193]
Bereits 2006 zeigten Randler und Frech, dass die Abiturergebnisse abhängig vom Chronotyp sind. Der Chronotyp ist eine Möglichkeit die Innenzeit anzugeben und wird durch die natürliche Schlafmitte bestimmt. Frühtypen zeigten bessere Schulergebnisse. [Randler/Frech, 2006] Schon damals waren Spättypen durch einen zeitigen Schulbeginn stark benachteiligt. Diese Ergebnisse wurden weltweit durch viele andere Studien bestätigt.
Eine Studie von Juan F. Díaz-Morales und Christina Escribano bezieht sich auf Schüler im Alter von 12 bis 16 Jahren. Sie zeigte, dass die Gesamtschlafenszeit in einer Woche keinen Einfluss auf kognitive Fähigkeiten hat. Nur die Schlafenszeit an Schultagen ist entscheidend. Außerdem ist deutlich geworden, dass je größer der Social Jetlag ist, desto leistungsschwächer sind die Schülerinnen und Schüler. Ein zu zeitiger Schulbeginn führt zu Verhaltensproblemen, höheren Gesundheitsrisiken, schlechteren sozialen Beziehungen und schlechteren Schulnoten. [Diaz-Morales/Escirbano, 2015]
Die Studie von Andrew W. McHill zeigt, dass es durch Schlafmangel zu einer verlangsamten Reaktionszeit und erhöhten Fehlerrate kommt. Diese Auffälligkeit wird stärker, wenn die Prüfung im biologischen Schlaffenster erfolgt. Die Probanden waren sich ihrer Leistungseinbrüche jedoch nicht bewusst. [McHill, 2018]